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Tourismus bringt Menschen zu Menschen.
Mehr als jeder zweite Bundesbürger hat in seinem Leben schon Urlaub in einem Land des Globalen Südens gemacht. Gut zwei Fünftel von ihnen meinen, dass Gespräche mit Einheimischen Voraussetzung für das richtige Kennenlernen dieser Länder sind. Beachtliches Interesse an Land und Leuten sowie persönlichen Begegnungen mit Einheimischen. Differenzierte Meinungen zu Wirkungen des Tourismus.
Vor 45 Jahren – gut eine Dekade, nachdem die ersten Pauschalurlaubsreisen auf Charterflugbasis nach Nord- oder Schwarzafrika aufgelegt wurden – ermittelte die Reiseanalyse des Studienkreis für Tourismus e. V. in Starnberg, dass im Jahr 1974 ca. 400.000 Westdeutsche ihre Haupturlaubsreise in ein außereuropäisches Entwicklungsland unternommen hatten. Seitdem hat sich die jährliche Zahl der Entwicklungsländer-Reisenden im deutschen Quellmarkt mehr als verzwanzigfacht: 2018 waren es 8,9 Mio.
Anfang 2019 verfügten bereits 36,5 Mio. Bundesbürger über Urlaubsreiseerfahrung in Entwicklungs- oder Schwellenländern – das sind 52% der Wohnbevölkerung in Deutschland ab 14 Jahren. 24% (16,6 Mio.) hatten solche Reisen innerhalb der letzten drei Jahre (2018, 2017,2016) unternommen, weitere 28% (19,9 Mio.) zu einem früheren Zeitpunkt. 48% (34 Mio.) haben nach eigenen Angaben in ihrem Urlaub noch nie ein Land des globalen Südens besucht. Dies hat der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e. V. in Seefeld im Rahmen von Exklusivfragen in der Reiseanalyse 2019 auf Basis von 7.733 face-to-face Interviews ermittelt (siehe Grafik 1).
Die meisten Entwicklungsländer-Erfahrenen (22,7 Mio.) hatten bisher das Schwellenland Türkei bereist, 10 Mio. waren bereits in Ägypten, 7,6 Mio. in Tunesien und 4,1 Mio. in Marokko. Das Schwellenland Russland haben bisher 4,3 Mio. besucht; 2,4 Mio. waren in Mexiko und 1,4 Mio. in der Volksrepublik China.
In Bezug auf die Urlaubsreiseerfahrung in diversen Regionen des Globalen Südens dominieren Besucher der Karibik mit 6,1 Mio. und Südostasiens mit 4,7 Mio. Die ca. 16.000 km entfernten Südpazifischen Inseln haben bisher 0,3 Mio. Deutsche besucht.
Unter Entwicklungsländer-Erfahrenen Urlauberinnen und Urlaubern besteht ein beachtliches Interesse am besseren Kennenlernen der Länder des Globalen Südens und an persönlichen Begegnungen und Gesprächen mit Einheimischen.
Vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Urlaubsaufenthalte in Ländern des globalen Südens vertreten 42% der 36,5 Mio. Entwicklungsländer-Erfahrenen die Auffassung, dass man diese Länder nur durch Gespräche mit Einheimischen richtig kennenlernen kann. Für solche Kontakte und Begegnungen sind fast ein Drittel (10,6 Mio.) bis gut zwei Fünftel (15,7 Mio.) persönlich ansprechbar. Ein weiteres Drittel ist diesbezüglich unentschieden (siehe Grafik 2).
Fast die Hälfte (17,5 Mio.) möchte bei ihrem Urlaub in Entwicklungs- und Schwellenländern möglichst viel über die Lebensbedingungen der Einheimischen erfahren, gut zwei Fünftel (15,3 Mio.) interessieren sich im Urlaub sehr für die soziale und politische Situation dieser Länder.
Gut zwei Drittel (24,8 Mio.) möchten bereits vor Reiseantritt sehr gut über Land und Leute informiert sein; drei Fünftel (21,5 Mio.) erwarten von ihrer Reiseleitung Informationen über Land und Leute im Rahmen von organisierten Ausflügen. Und zwei Fünftel (14,6 Mio.) möchten ihre Reise in ein Land des Globalen Südens am liebsten bei einem Reiseunternehmen buchen, das im Urlaubsland nachweislich Einfluss nimmt auf die Gewährleistung von fairen Arbeitsbedingungen und Einkommen der im Tourismus Beschäftigten.
Differenzierte Einschätzung der Wirkungen des Tourismus
Bezüglich ausgewählter positiver und negativer Wirkungen des Urlaubstourismus in Entwicklungs- und Schwellenländern zeigen Entwicklungsländer-Erfahrene differenzierte Meinungen (siehe Grafik 3). Zwar sehen mehr als zwei Drittel (ca. 25,9 Mio.) die Schaffung von Arbeitsplätzen bzw. Deviseneinnahmen und gut zwei Fünftel (15,7 Mio.) einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung. Zwei Fünftel (14,6 Mio.) verweisen aber auch darauf, dass bei Urlaubern das Verständnis für die Probleme der Länder gefördert wird und sie sich zu Hause kompetenter und differenzierter über Land und Leute äußern können. Unter EL/SL-Erfahrenen mit Begegnungsinteresse (ca. 13,7 Mio.) sieht dies durchschnittlich die Hälfte.
Bei den negativen Aspekten wird vor allem die Belastung oder Zerstörung der natürlichen Umwelt in den Destinationen gesehen (zwei Fünftel; 14,6 Mio.). Jeweils ca. ein Drittel (ca. 12 Mio.) verweisen auf eine Anpassung von Traditionen und Brauchtum an die Wünsche der Touristen und relativieren die positive Bedeutung der Deviseneinnahmen, in dem diese auch zur Stabilisierung von Unrechts-Systemen beitragen. Ein knappes Drittel (11 Mio.) vertritt die Ausfassung, dass Tourismus in den Ländern auch zu Prostitution von Frauen und Kindern führt.
Perspektiven für die Entwicklung der Urlauberzahlen für den Zeitraum 2019 – 2021
2018 haben 8,9 Mio. Bundesbürger auf Basis ihrer Haupturlaubsreise Länder des Globalen Südens bereist, das sind 16% aller Urlaubsreisenden und 22% aller Auslandsurlauber. (siehe Grafik 4).
Anfang 2019 konnten sich 44 % der Bundesbürger ab 14 Jahren vorstellen, innerhalb der nächsten drei Jahre „ziemlich sicher“ oder „generell“ Urlaub in Entwicklungs- oder Schwellenländern zu machen (siehe Grafik 5). Bei den 16,6 Mio. mit aktueller EL-/SL-Erfahrung (letzte drei Jahre) sind es 85% - bei jenen 19,9 Mio., die EL/SL zuletzt vor 2016 bereist haben, sind es 44%. Unter den 34 Mio. EL-/SL-Unerfahrenen zeigen 25% ein Interesse, im Zeitraum 2019 – 2021 Länder des Globalen Südens zu bereisen. Insgesamt ergibt sich ein Interessenten-Potenzial von 31,3 Mio. für den Zeitraum 2019 bis 2021. Bei den Destinationspräferenzen dominieren die Türkei und Ägypten sowie die Karibik, Südostasien und die Arabischen Emirate.
In welchem Umfang sich das Potenzial realisiert, hängt von zahlreichen persönlichen und externen Faktoren ab, die sich während eines Realisierungszeitraums von drei Jahren mehr oder weniger kurzfristig positiv oder negativ verändern können. Zu letzteren zählen auch und insbesondere außergewöhnliche politische, gesellschaftliche Ereignisse in Destinationen, welche die persönliche Sicherheit oder das Wohlbefinden im Urlaub beeinträchtigen können.
So brach zum Beispiel in der deutschen Wohnbevölkerung das Dreijahres-Potenzial für Türkei-Urlaubsreisen von 19,3 Mio. im Januar 2015 in den beiden Folgejahren um insg. -42% auf 11,1 Mio. ein. Damit verbunden war bereits 2016 ein drastischer Rückgang der tatsächlichen Türkei-Urlauber ab 14 Jahren (Basis: Haupt-Urlaubsreise ab 5 Tagen Dauer) um -31% (-1,1 Mio.). Erst 2018 setzte ein Wiederanstieg der Urlauberzahl ein (+13%), die aber mit 2,6 Mio. noch deutlich unter dem letzten Höchstwert von 2015 (3,5 Mio.) liegt.
Verunsichernde, zum Teil gewalttätige Auswirkungen des sog. „Arabischen Frühlings“ hatten auch das Interessenten-Potenzial für Nordafrika-Urlaubsreisen (11,6 Mio. im Januar 2010) ab 2011 bis 2016 um 34% auf 7,7 Mio. reduziert – bei gleichzeitigem Rückgang deutscher Nordafrika-Urlauber um -58% (-1,1 Mio.). Erst 2017 setzte eine Erholung ein, die aber 2018 mit 1,3 Mio. noch unter dem letzten Höchstwert von 2010 (1,9 Mio.) liegt.
Immerhin zeigen sich in der deutschen Wohnbevölkerung Anfang 2019 bei den volumenmäßig dominierenden Destinationen Türkei, ferne Entwicklungsländer und Nordafrika (siehe Grafik 6) deutliche Zunahmen der Interessenten-Potenziale im Vergleich zum Vorjahr (Türkei +30%); ferne Entwicklungsländer (+7%); Nordafrika (+17%). Dies gilt auch für die Arabischen Emirate (+19%). Das aktuelle Dreijahres-Potenzial für die Türkei liegt jedoch aktuell mit 14,5 Mio. noch signifikant hinter dem Stand von 2015 (19,3 Mio.).
Tourismus ist mehr als eine ökonomische Transaktion. Tourismus bringt Menschen zu Menschen.
Die obigen Ergebnisse basieren auf ersten ausgewählten Aspekten der Teilauswertung eines umfangreichen Datenmaterials. Sie zeigen u. a. erneut, dass aus Sicht der Entwicklungs-und Schwellenländer-erfahrenen Urlauberinnen und Urlauber (zu denen inzwischen jeder zweite Bundesbürger zählt) der Tourismus in den Destinationen des Globalen Südens mit komplexen ökonomischen, ökologischen und sozialen Wirkungen verbunden ist. Erneut wird deutlich, dass es im deutschen Quellmarkt für Urlaubsreisen ein beachtliches Interessen- und Ansprechpotenzial für Reisen in Entwicklungs- und Schwellenländer gibt, die geeignet sind, ein besseres Verstehen dieser Länder zu ermöglichen und interkulturelle Begegnung zu fördern – zugunsten eines Weltverständnisses, das persönliche, differenzierte Begegnungserfahrungen mit Menschen in anderen Kulturen einschließt.
Die Ergebnisse weiterer Detailanalysen zur Segmentierung des deutschen Quellmarktes für Urlaubsreisen in Entwicklungs- und Schwellenländer (einschließlich der EL/SL-Unerfahrenen) nach soziodemografischen und Reiseverhaltensmerkmalen sowie Typologien und Ansprechbarkeiten auf sozial- und umweltorientiertes Reisen, fließen ein in die Herausgabe einer Neuauflage der Studie „Tourismus in Entwicklungs- und Schwellenländer“ im Rahmen der Schriftenreihe für Tourismus und Entwicklung. Sie wird weitere, differenzierte Marktdaten für die Gestaltung touristischer Angebote enthalten sowie Handlungsempfehlungen für die entwicklungsbezogene Informations- und Bildungsarbeit im Tourismus.
Für den Text verantwortlich: Susanne Egermeier, Dietlind von Laßberg, Armin Vielhaber
Die Studienkreis-Forschung zum Tourismus in Entwicklungs- und Schwellenländer erfolgt im Rahmen von qualitativer und quantitativer Eigen- und Auftragsforschung. Sie basiert u.a. auf einer regelmäßigen Beteiligung an der Reiseanalyse der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V. (F.U.R), deren Gründungsmitglied der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V. ist. Neben generellen Analysen des deutschen Quellmarkts für Urlaubsreisen reicht das Themenspektrum (auf Basis von Studienkreis-Exklusivfragen) von der Einschätzung positiver und negativer Wirkungen des Tourismus auf die Länder des Globalen Südens, über die Ansprechbarkeit der Urlauber auf das Kennenlernen von Land und Leuten und interkulturelle Begegnung, ihre Erwartungen an die Reiseleitung/Urlaubsbetreuung vor Ort, bis zur Ansprechbarkeit auf Themen wie Urlaubsreisen und Umwelt oder Urlaubsreisen und Menschenrechte. Mit Studienkreis-Exklusivfragen in diversen Reiseanalysen wurde (auf Basis von ca. 8.000 face-to-face-Interviews) seit 1995 auch mehrfach das touristische Image der Türkei analysiert (u.a. Gründe, die für oder gegen Urlaubsreisen in die Türkei sprechen), ebenso die Bedeutung und das Image von All-inclusive-Reisen für diese Destination.
Der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung beschäftigt sich mit entwicklungsbezogener Informations- und Bildungsarbeit im Tourismus. In diesem Zusammenhang gibt er Publikationen heraus, führt internationale Wettbewerbe durch, veranstaltet Aus- und Fortbildungsseminare für im Tourismus Beschäftigte, ist in den Bereichen Tourismusforschung und -beratung tätig und beteiligt sich am Dialog über Fragen touristischer Entwicklung.