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Leseprobe "Marokko verstehen"

Magischer Alltag

Leseprobe aus unserem SympathieMagazin "Marokko verstehen".

In meinem Leben war ich nie Geistern begegnet – bis zu jenem Abend im Haus einer alleinlebenden älteren Dame in Südmarokko. Ich war am späten Nachmittag in dem kleinen Ort angekommen und suchte eine Bleibe für die Nacht. Da kam sie freundlich auf mich zu, lud mich zu sich nach Hause ein und bot mir an, auf ihrem Sofa zu übernachten. Sie erschien mir vertrauenswürdig, und so nahm ich die Gelegenheit zum spontanen Couchsurfing gern an.

Bei Tee und »M’semmen« (marokkanischen Crêpes) kamen wir ins Gespräch. Plötzlich musste ich laut niesen. »Al Hamdoulillah! Gelobt sei Gott!«, rief meine Gastgeberin und klatschte in die Hände. Ich war verwirrt: Warum sollte man Gott loben, wenn jemand niest? Und so erzählte sie mir von den »Dschnun«, den Geistern: »Geister lieben dunkle und feuchte Räume. So wie den menschlichen Körper: Der ist im Inneren schließlich sehr dunkel und sehr feucht. Deshalb schleichen Geister sich mit Vorliebe ins Innere des Menschen. Wollen sie hinaus, kitzeln sie einfach an der Nase, und man muss niesen. Deshalb das ›Gott sei gelobt – Al Hamdoulillah‹. Sie sind draußen! Wollen sie aber wieder hinein, dann stehlen sie einem Sauerstoff. Man muss gähnen, und schwups, saugt man die kleinen Luftwesen wieder ein. Deshalb solltest du versuchen, nicht allzu viel zu gähnen.«

Die meisten Geister seien harmlos, fuhr die alte Dame fort: »Sie gehen einem vielleicht auf die Nerven, doch sie richten keinen Schaden an. Man kann sie mit Amuletten oder mit Gebeten in Schach halten.« Doch es gebe auch die richtig schlimmen, bösen Geister, die einen krank oder verrückt machten und die im Extremfall sogar töten könnten. »Gegen diese helfen keine Sprüche. Die schlimmen Geister muss man mithilfe von Heilerinnen oder Heilern vertreiben.« Das wollte ich genauer wissen: Wie funktioniert das? »Viele Geistheiler nutzen laute Musik und wilde Tänze. Sie trommeln so lange, bis man in Trance verfällt, vielleicht laute Schreie ausstößt, sich heftig bewegt, wild tanzt. Die wilden Bewegungen helfen, die bösen Kräfte zu vertreiben. Es funktioniert meistens.« Das beruhigte mich, und ich wollte mich nun schlafen legen. Da nieste meine Gastgeberin kräftig. »Al Hamdoulillah«, entfuhr es mir spontan. »Siehst du? Es funktioniert«, sagte die alte Dame. »Wenn wir jetzt nicht gähnen, werden wir eine ruhige Nacht haben. Und morgen erzähle ich dir mehr.«

Muriel Brunswig

Copyright Bild: pixabay

 

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