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Leseprobe Mongolei verstehen

Lockdown in der Steppe

Der Wind saust in meinen Ohren und nimmt mir nicht nur wegen der FFP2-Maske den Atem. Auch die Geschwindigkeit auf dem Rücksitz des Motorrads, auf dem ich durch die Steppe donnere, ist atemberaubend.

Ich habe noch nie auf einem Motorrad gesessen, und es war auch überhaupt nicht das, woran ich dachte, als ich am 15. Februar 2020 in Berlin in den Zug stieg, um per transsibirischer und transmongolischer Eisenbahn in die Mongolei zu reisen. Ich wollte zu den Rentiernomaden, den Dukha oder »Tsaaten«, wie sie von den Mongolinnen und Mongolen genannt werden, also in den sibirischen Teil des Landes. Und ich wollte lange bleiben, die Nomadenkultur behutsam kennenlernen, den Fotoapparat nicht voyeuristisch, sondern dokumentarisch erkundend nutzen. Als Zeichen des Respekts für diese archaische Lebensweise. Doch dann kam Corona. Nachdem wir schon zwei Tage unterwegs Richtung russischer Grenze waren, überbrachte mir mein mongolischer Tourguide Gozo die Botschaft, dass die Behörden uns nur für einen Nachmittag die Erlaubnis geben würden, die Rentiernomaden zu besuchen. Die klare Linie der mongolischen Regierung war, die Ausbreitung des Virus unter den Nomadenfamilien unter allen Umständen zu verhindern. Ich hatte dafür volles Verständnis. Aber mein Traum vom Eintauchen in die nomadische Lebenswelt war geplatzt.

Gozo und ich nutzten diesen einen Nachmittag, um die Nomadinnen und Nomaden und ihre Rentiere zu fotografieren. Und plötzlich handelte ich wie manche der Touristinnen, die auf die Schnelle etwas Exotik einfangen. Genau das, was ich eigentlich nicht wollte. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich nicht den Hauch einer Ahnung von der nomadischen Lebensweise hatte. Und die kurzen Impressionen, die auf der Fahrt zu den Rentiernomaden möglich waren, haben meinem Bild vom Nomadenleben im Einklang mit der Natur auf jeden Fall gewaltige Kratzer verpasst. Mit Müll in der Steppe hätte ich nicht gerechnet ...

Wir reisten also frustriert zurück nach Ulan Bator, wo wir am 8. März 2020 ankamen. Zwei Tage später wurde der landesweite Lockdown verkündet. Die Menschen wurden dazu angehalten, zu Hause zu bleiben, sämtliche internationalen Flüge und Zugverbindungen wurden storniert. Ulan Bator, im Winter ohnehin eine ziemlich ungemütliche Stadt, erstarrte in Reglosigkeit. Während die Menschen in Deutschland jetzt Klopapier horteten, gab es in Ulan Bator Hamstereinkäufe beim Fleisch. Sogar beim Spazierengehen im Freien herrschte Maskenpflicht, und selbst die Nachrichtensprecherin im Fernsehen ging mit Maske vor die Kamera. Und ich saß in der Hauptstadt fest.

Auch mein Hostel wurde zwangsweise geschlossen. Und so lernte ich echte mongolische Gastfreundschaft ausgerechnet in der Großstadt kennen. Ich kam in der Wohnung des Vaters meines Tourguides Gozo unter, und die Familie kümmerte sich fürsorglich um die gestrandete deutsche Fotografin. Wie selbstverständlich nahmen sie mich auch mit auf ihre Datscha in der Steppe. Und da gab es eine echte Überraschung, denn das Wochenendhaus ist das inoffizielle Vereinsheim der »Mongolian Lady Riders« – des einzigen Frauenmotorradklubs der Mongolei. Mugi, Gozos Ehefrau, ist eine der Ladys, die auf ihren Maschinen selbstbewusst durch die Steppe donnern und das traditionelle Rollenbild gehörig ins Wanken bringen. So kam es, dass ich, statt Rentiernomadinnen zu knipsen, auf einmal auf dem Rücksitz dröhnender Motorräder unterwegs war. Als kleine Erinnerung daran, was ich eigentlich in der Mongolei wollte, hat Mugi ihren Lieblingstätowierer für mich gebucht, der mir ein Rentiertattoo auf das rechte Handgelenk gestochen hat. Ich revanchierte mich mit Fotos der Lady Bikers und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich in der Lebenswelt der Mongolinnen angekommen zu sein – auch wenn es eine komplett andere war, als ich vor der Reise erwartet hatte.

Mit eineinhalb Monaten Verspätung konnte ich schließlich in einem von der mongolischen Regierung gecharterten Flugzeug nach Deutschland zurückfliegen. Heute denke ich: Mein Coronalockdown in der Mongolei war ein großer Glücksfall. Eymelt Sehmer

 

Aus unserem SympathieMagazin Mongolei verstehen

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